[Prolog: Wer nach unten scrollt und danach vom Vorsatz, den Blogbeitrag zu lesen zurücktritt, den kann ich beruhigen. Das wichtigste in Kürze ist auch im Beitrag von Paul Reichel zu finden. Wer länger Zeit hat, kann hier weiterlesen.]
Am 25. Juni jährt sich der Abschluss des „Übereinkommen der Wirtschaftskommission für Europa über den Zugang zu Informationen, die Öffentlichkeitsbeteiligung an Entscheidungsverfahren und den Zugang zu Gerichten in Umweltangelegenheiten“, der in der dänischen Stadt Århus, stattgefunden hat, zum 20. Mal. Der Langtitel könnte treffender nicht sein, erfasst er doch gleich alle 3 Säulen der Konvention. Wenn sich schon der Titel durch eine solche Klarheit auszeichnet, wird es wohl beim Text nicht anders sein, könnte man meinen, wäre aber kaum je weiter entfernt von der Wahrheit als bei der AK. Vor nunmehr 13 Jahren, am 17. 1. bzw 17. 2. 2005, haben Österreich und die EU die Konvention ratifiziert, mindestens ebenso lang wird (EU-weit) über die Auslegung gestritten. So ziemlich die einzigen Punkte, über die von Anfang an Einigkeit in Ö herrschte, war das Kommittent zur deutschen Aussprache: Aarhus anstatt Århus (= gesprochen: „ɒːhuːs“) und der Kurztitel: „Aarhus-Konvention“. Wobei sich die Differenzen hinsichtlich der ersten beiden Säulen – Umweltinformation und Öffentlichkeitsbeteiligung – im üblichen juristischen Rahmen hielten. Dies verwundert auch nicht weiter, denn abgesehen von rasch erfolgten Umsetzungsschritten, wie zB im UIG, greifen diese Rechte noch nicht fundamental in stark umkämpfte Interessenssphären ein.
Richtig knackig wird die Diskussion erst bei der Dritten Säule, dem sog. "access to justice". Für die einen enthält die Konvention in Art 9 Abs 2 und Abs 3 völlig nebulose und unklare Bestimmungen, für die anderen bestand an den daraus resultierenden Verpflichtungen von Anfang an nie ein Zweifel. Mit zwei aktuellen Entscheidungen, EuGH 20. 12. 2017, C‑664/15 „Protect“ und dem eingangs zitierten VwGH-Erkenntnis kann man die Aarhus Konvention in Österreich als endgültig angekommen ansehen.
Nicht allein als erste Entscheidung nach dem EuGH-Urteil – die Revision iS „Protect“ wurde vom VwGH noch nicht entschieden – verdient das Erkenntnis des VwGH Beachtung, sondern weil es zwei unterschiedliche Themenkreise zusammen führt: auf der einen Seite die Frage, in welchen Materien Umweltorganisationen (kurz: UO) ein Rechtszugang gewährt werden muss, auf der anderen Seite die Frage, ob eine UO das Recht hat, aktiv das Ergreifen von generellen Maßnahmen, wie zB von Verordnungen zur Luftreinhaltung, zu fordern.
Beide daraus resultierenden Fragen wurden im Sinne der Revision der UO „Ökobüro“ gelöst. Die für die meisten Umweltjuristen aus „Protect“ abzuleitende Schlussfolgerung wurde vom VwGH bestätigt: Der (betroffenen) Öffentlichkeit muss es möglich sein, die Beachtung der durch Unionsumweltrecht hervorgegangenen Rechtsvorschriften überprüfen zu lassen. Die verfahrensrechtlichen Verpflichtungen der Aarhus-Konvention treten insofern zu den materiellen, unionsrechtlichen Umweltschutzvorschriften hinzu und münden gemeinsam in Überprüfungsrechten auch in solchen Verfahren, in denen diese der (betroffenen) Öffentlichkeit nach innerstaatlichem Recht nicht zustünden.
Bei seiner zweiten Kernaussage bestätigte der VwGH ebenfalls die Ansicht des Ökobüros, wonach eine Umweltorganisation die aus der Richtlinie 2008/50/EG, „Luftqualität und saubere Luft für Europa“, resultierenden Verpflichtungen aktiv einfordern kann. Im konkreten Fall warf das Ökobüro dem Sbg Landeshauptmann vor, nicht die erforderlichen Maßnahmen zur Eindämmung und Reduzierung der Luftverschmutzung und damit den Schutz der öffentlichen Gesundheit gesetzt zu haben.
Wörtlich führte der VwGH aus:
„49 Vor dem Hintergrund der beiden zitierten Urteile des EuGH [Anm: gemeint EuGH25. . 2008, C-237/07 „Janecek“ und 19. 11. 2014, C-404/13 „Client Earth“] hat sich der Verwaltungsgerichtshof bereits in seinen Erkenntnissen vom 28.5.2015, Ro 2014/07/0096, und vom 25.10.2017, Ro 2017/07/0020, 0021, mit einem mit dem in Rede stehenden Antrag der Revisionswerberin teilweise vergleichbaren – allerdings von natürlichen Personen gestellten – Antrag an den Landeshauptmann von Steiermark auf Erlassung von umfassenden verkehrsbezogenen Maßnahmen zur Einhaltung der Emissionsgrenzwerte für Feinstaub in Graz, welcher sich auf § 9a IG-L und die Steiermärkische Luftreinhalteverordnung 2011 sowie auf das Recht auf gesunde Luft im Sinne der Richtlinie 2008/50/EG gestützt hatte, befasst.
50 Wie der Verwaltungsgerichtshof darlegte, ist unter den in § 9a IG-L genannten Programmen ein Luftqualitätsplan im Sinne des Art. 23 der Luftqualitäts-RL zu verstehen. Der Antrag hatte sich auf die Erlassung oder Ergänzung zum einen eines Programmes nach § 9a IG-L, zum anderen der darauf aufbauenden Steiermärkischen Luftreinhalteverordnung 2011 bezogen. Er war inhaltlich auf langfristig wirksame Maßnahmen gerichtet und hatte damit auf die in Art. 23 der Luftqualitäts-RL genannten Luftqualitätspläne gezielt.
51 Der Verwaltungsgerichtshof hielt unter anderem fest, dass natürliche Personen wie die dortigen revisionswerbenden Parteien, wenn sie unmittelbar von der Überschreitung der Grenzwerte betroffen sind, bei den nationalen Behörden erwirken können müssen, dass ein Luftqualitätsplan im Einklang mit Art. 23 Abs. 1 Unterabs. 2 der Luftqualitäts-RL erstellt wird, wenn durch die Behörde die Einhaltung der sich aus Art. 13 Abs. 1 Unterabsatz 1 in Verbindung mit Anhang XI der Luftqualitäts-RL ergebenden Anforderungen nicht gewährleistet wurde und es auch zu keiner Fristverlängerung nach Art. 22 der Luftqualitäts-RL gekommen ist.
52 Auch im vorliegenden Fall ist der verfahrenseinleitende Antrag der Revisionswerberin, der auf (unstrittige) Grenzwertüberschreitungen hinsichtlich des Luftschadstoffes NO2 verweist, im Ergebnis auf die Erstellung bzw. Ergänzung eines Programmes nach § 9a IG-L und die Anordnung von Maßnahmen (durch Verordnung) nach §§ 10 ff. IG-L bzw. auf die Erstellung bzw. Änderung von Luftqualitätsplänen im Sinne des Art. 23 der RL 2008/50/EG gerichtet. Eine Fristverlängerung nach Art. 22 dieser Richtlinie liegt nicht vor.
53 Die Begründung des LVwG, natürlichen und juristischen Personen stehe ein Anspruch auf die Erstellung eines Aktionsplanes bzw. eines Luftqualitätsplanes im Sinne des Art. 23 der RL 2008/50/EG, nicht jedoch auf die Setzung einzelner Maßnahmen zu, ist im vorliegenden Zusammenhang bereits deshalb nicht zutreffend, weil die Anordnung von Maßnahmen nach § 10 IG-L auf der Grundlage eines Programmes gemäß § 9a IG-L erfolgt. Der Antrag auf Erlassung geeigneter Maßnahmen gemäß § 10 IG-L inkludiert daher bereits die Forderung nach einer Änderung bzw. Ergänzung eines Programmes gemäß § 9a IG-L.
54 Es ist nun die Frage zu beantworten, ob auch anerkannte Umweltorganisationen wie die Revisionswerberin legitimiert sind, einen derartigen Antrag zu stellen. Wie im zitierten Erkenntnis Ro 2014/07/0096 ist es auch im vorliegenden Fall unstrittig, dass das IG-L selbst keine unmittelbare Rechtsgrundlage für die Annahme eines subjektiven Rechts der Revisionswerberin auf Erstellung oder Ergänzung eines Programmes nach § 9a IG-L und auf die Anordnung von Maßnahmen nach §§ 10 IG-L bietet.
58 Es ist davon auszugehen, dass die Revisionswerberin mit dem verfahrenseinleitenden Antrag, in dem sie entsprechende Maßnahmen zur Einhaltung von Grenzwerten bezüglich NO2, die derzeit überschritten würden, forderte, eine gegen umweltbezogene Bestimmungen verstoßende „Unterlassung“ der Behörden im Sinne des Art. 9 Abs. 3 der Aarhus-Konvention geltend machte. …
62 Der EuGH hat bereits wiederholt ausgeführt, es wäre mit dem zwingenden Charakter, den Art. 288 AEUV der Richtlinie 2008/50/EG verleiht, unvereinbar, es grundsätzlich auszuschließen, dass eine mit ihr auferlegte Verpflichtung von den betroffenen Personen geltend gemacht werden könne. Diese Überlegung gelte ganz besonders für eine Richtlinie, die eine Eindämmung und Reduzierung der Luftverschmutzung und damit den Schutz der öffentlichen Gesundheit bezwecke (EuGH, Client Earth, Rn. 55, mwN).
63 In dem bereits zitierten (zu der Richtlinie 2000/60 bzw. einem Bewilligungsverfahren ergangenen) Urteil Protect (vgl. Rn. 46 des Urteils) hielt der EuGH fest, dass das in Art. 9 Abs. 3 der Aarhus-Konvention vorgesehene Recht, einen Rechtsbehelf einzulegen, keine praktische Wirksamkeit hätte, ja ausgehöhlt würde, „wenn zugelassen würde, dass durch im innerstaatlichen Recht festgelegte Kriterien bestimmte Kategorien der ,Mitglieder der Öffentlichkeit‘, erst recht der ,betroffenen Öffentlichkeit‘ wie Umweltorganisationen, die die Voraussetzungen von Art. 2 Abs. 5 des Übereinkommens von Aarhus erfüllen, der Zugang zu den Gerichten gänzlich verwehrt würde.
65 Konkrete Vorschriften des innerstaatlichen Rechts, die den vom EuGH beschriebenen Gestaltungsspielraum des nationalen Gesetzgebers im Zusammenhang mit Art. 9 Abs. 3 Aarhus-Konvention ausübten, bestehen hinsichtlich der hier einschlägigen Normen des Luftqualitätsrechts nicht. Vor dem Hintergrund des dargelegten zwingenden Charakters der RL 2008/50/EG und der vom EuGH hervorgehobenen Unzulässigkeit, derart strenge Kriterien festzulegen, dass es für Umweltorganisationen praktisch unmöglich ist, Handlungen und Unterlassungen im Sinne von Art. 9 Abs. 3 der Aarhus-Konvention anzufechten, um die Beachtung der aus dem Unionsumweltrecht hervorgegangenen Rechtsvorschriften überprüfen zu lassen, folgt daher aus der zitierten Judikatur für den gegenständlichen Fall, in dem die geltend gemachte Überschreitung von Grenzwerten unstrittig ist, dass Umweltorganisationen, sofern sie bestimmte Voraussetzungen erfüllen, grundsätzlich legitimiert sind, einen Antrag wie den verfahrenseinleitenden Antrag vom 8. April 2014 zu stellen. Diese Überlegung gilt gerade für die RL 2008/50/EG, die der Eindämmung und Reduzierung der Luftverschmutzung und damit dem Schutz der öffentlichen Gesundheit dient (vgl. dazu auch VwGH 28.5.2015, Ro 2014/07/0096, Pkt. 4.2.).
66 Eine derartige Legitimation zur Stellung eines Antrages wie den hier verfahrensgegenständlichen wird man jedoch nur für jene gemäß § 19 Abs. 7 UVP-G 2000 anerkannten Umweltorganisationen annehmen können, die sich für den Umweltschutz einsetzen und deren Tätigkeit sich inhaltlich und räumlich auf den „Schutz des Allgemeininteresses“ im Sinne der zitierten Judikatur des EuGH – hier: auf die Reduzierung der Luftverschmutzung und damit den Schutz der öffentlichen Gesundheit, konkret im Zusammenhang mit der Einhaltung der für NO2 festgelegten Immissionsgrenzwerte im Bundesland Salzburg – bezieht. Dass die Revisionswerberin, deren räumlicher Tätigkeitsbereich mit dem gemäß § 19 Abs. 7 UVP-G 2000 erlassenen Anerkennungsbescheid des Bundesministers für Land- und Forstwirtschaft, Umwelt und Wasserwirtschaft vom 2. Mai 2005 für ganz Österreich festgelegt wurde, diese Voraussetzungen inhaltlich nicht erfüllte, ist im durchgeführten Verfahren nicht hervorgekommen. Die Antragslegitimation der Revisionswerberin ist somit im gegenständlichen Fall zu bejahen.“
Wie es im konkreten Fall weitergeht, hat nun das Landesverwaltungsgericht Sbg zu klären. Auch die Frage, ob zwischenzeitig wirksame Maßnahmen ergriffen wurden, spielt dabei eine Rolle, wie der VwGH noch mit auf den Weg gibt (Rz 70).
Sinnvoller als abzuwarten und die „Rechtsfortbildung“ in diesem Bereich den Gerichten zu überantworten, wären aus meiner Sicht aber legistische Lösungen. Insofern kann ich mich der diesbezüglichen Forderung von Ennöckl/Niederhuber, Anlagenrecht: Auch Umwelt-NGOs müssen gehört werden, Presse vom 23. 1. 2017) anschließen; ebenso auch dem Statement von E. Wagner, Fehlende Umsetzung von Aarhus im Wasserrecht – Glosse zu EuGH „Protect“, RdU 2018/31: Rechtsunsicherheit nutzt weder Projektwerbern noch Projektgegnern. Eine klare, einheitliche Regelung sowohl für Art 9 Abs 2, als auch Abs 3 AK ist gefordert.
Die dabei immer wieder hörbare Befürchtung, Umweltorganisationen könnten bei zusätzlicher Gewährung von Rechtschutz durch den Gesetzgeber ihre rechtlichen Möglichkeiten derart extensiv wahrnehmen, dass straffe Verfahren nicht mehr möglich seien, halte ich für unbegründet. Die Erfahrung zeigt ein anderes Bild; die schon derzeit eingeräumten Parteienrechte werden von Umweltorganisationen nur sehr selektiv wahrgenommen. Nicht zwangsweise muss dies mit einer längeren Verfahrensdauer einhergehen, wobei hier die persönlichen Wahrnehmungen in Verfahren sehr unterschiedlich und im Endeffekt nicht von der abstrakten Möglichkeit zur Teilnahme, sondern von der konkret tätigen Umweltorganisation abhängig sind.
Ebenso unberechtigt ist meines Erachtens die Sorge, die zitierten Entscheidungen des EuGH und VwGH würden auch auf längst rechtskräftige Bewilligungen zurück wirken. Zwar wird von Projektgegnern nach EuGH-Urteilen mitunter versucht, alte Verfahren mit der Behauptung, sie seien übergangene Parteien, neu aufzurollen; ein Erfolg kann ihnen mE nur ausnahmsweise beschieden werden. Die Versuche, abgeschlossene Verfahren zu bekämpfen, rührt aus der Überlegung her, dass der EuGH mit seinen Urteilen lediglich Auslegungsfragen löst, die normativen Grundlagen dafür aber schon seit dem Inkrafttreten der jeweiligen unionsrechtlichen Bestimmungen galten. Konkret könnte man also auf das Inkrafttreten der AK abstellen, in Österreich auf den 17. April 2005 (90 Tage nach der Hinterlegung der Ratifikationsurkunde (Art 20 Abs 3).
Der EuGH hatte sich aber mit dieser Thematik, dem Ausgleich zwischen Rechtssicherheit für den Projektwerber einerseits und Rechtschutz für Projektgegner andererseits, bereits in seinem Urteil vom 13. 1. 2004, C-453/00 „Kühne & Heitz“ auseinander gesetzt und diese Linie seitdem mehrfach bestätigt und auch geschärft. Rechtskräftige Bewilligungen können nicht generell mit der Behauptung angefochten werden, schon nach Inkrafttreten der AK wäre eine Parteistellung und/oder ein Überprüfungsrecht zwingend zu gewähren gewesen, weshalb das EuGH-Urteil auch insofern auf bereits abgeschlossene Verfahren zurück wirken würde, als alle seitdem ergangenen Entscheidungen angefochten werden können.
Nur in sehr speziellen Fällen, so der EuGH in „Kühne/Heitz“, kommt eine Rechtskraftdurchbrechung infrage:
Die Verwaltungsbehörde nach nat. Recht hat die Befugnis, bestandskräftige Entscheidungen zurückzunehmen.
Der Rechtschutzsuchende hat (damals) den Instanzenzug ausgeschöpft, die Verwaltungsentscheidung erlangte daher ihre Bestandskraft erst infolge eines Urteils eines nationalen Gerichts, dessen Entscheidung nicht mit RM anfechtbar sind.
Das Urteil beruhte auf einer Auslegung des Gemeinschaftsrechts, die, wie ein später ergangenes Urteil des EuGH zeigt, unrichtig war und die erfolgt ist, ohne dass der EuGH angerufen worden ist, obwohl der Tatbestand des Art 234 Abs 3 EG erfüllt war.
Der Betroffene wandte sich unmittelbar nach Kenntnis von diesem Urteil des EuGH an die Verwaltungsbehörde.
Zusammengefasst und umgemünzt auf den „access to justice“ nach EuGH „Protect“: eine NGO muss in einem Verfahren, in dem die Überprüfung unionsrechtlich vorgegebenen Umweltrechts vorzunehmen war (oder gewesen wäre), versucht haben Parteistellung zu erlangen, den Rechtszug ausgeschöpft haben, und die Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofes – bzw bei nicht zugelassener Revision seit 1. 1. 2014 des Verwaltungsgerichts – muss auf einer falschen Auslegung des Unionsrechts beruhen.
Die letztgenannte Voraussetzung wird wohl die wenigsten Probleme bereiten. Hat eine NGO versucht, Parteistellung in einem Verfahren zu erlangen, in dem diese nach EuGH „Protect“ zu gewähren gewesen wäre, so beruhen die bislang ergangenen abweisenden (bzw mangels Legitimation zurückweisenden) Erkenntnisse zumindest implizit auf einer falschen Rechtsauslegung zu den aus Art 9 Abs 2 bzw Abs 3 resultierenden Rechten. Zur Vorlage an den EuGH sah sich der VwGH vor "Protect" offensichtlich nicht veranlasst, weil sich die jeweiligen Revisionswerber in den bisherigen Verfahren nur auf die AK stützten, nicht aber auf das Zusammenwirken der AK mit unionsrechtlichem Umweltrecht. Nicht notwendig ist es nach Ansicht des EuGH jedoch, dass sich die Betroffenen ausdrücklich auch auf die Gemeinschaftsrechtswidrigkeit berufen. Es obliegt vielmehr dem nationalen Richter selbst, die Anwendbarkeit des Unionsrechts zu prüfen und im Zweifel vorzulegen (vgl EuGH 19. 9. 2006, C-392/04 und C-422/04, „Germany GmbH und Arcor AG & Co. KG“; 12. 2. 2008, C-2/06, „Kempeter“).
Wer nun meint, diese Rechtsansicht des EuGH sei zu streng, vor allem aufgrund des Erfordernisses des Ausschöpfens des Rechtszugs, dem ist entgegen zu halten, dass immerhin die Durchbrechung der Rechtskraft von bewilligten und wohl in vielen Fällen auch in Betrieb befindlichen Vorhaben zur Diskussion steht. Wenn eine UO im Rahmen eines (mittlerweile rechtskräftig abgeschlossenen) Genehmigungsverfahrens nicht einmal versucht hat, Einwendungen zu erheben bzw die Entscheidung anzufechten, wiegt das Interesse des Konsensinhabers, Stichwort „Rechtssicherheit bzw Vertrauensschutz“, jedenfalls deutlich schwerer, als der Rechtschutz. Zieht man ins Kalkül, dass ansonsten eine bundesweite UO eine 13 Jahre alte Genehmigung anfechten könnte, obwohl sie in der Vergangenheit nie ein Interesse an diesem Verfahren gezeigt hat, steht dies mE außer Zweifel.
Das Rechtsmittel der Beschwerde ist mE in jenen Fällen, welche die Voraussetzung von „Kühne/Heitz“ erfüllen, nicht zulässig, weil dem ordentlichen Rechtsmittel gerade in jenen Fällen, die die oben genannten 4 Voraussetzungen erfüllen, die entschiedene Sache entgegen steht. Es ist daher auf die Rechtschutzinstrumentarien zurückzugreifen, welche das Allgemeine Verfahrensrecht unter den Schlagworten „Durchbrechung der Rechtskraft“ kennt. Die Frage, welcher Rechtsbehelf hier der richtige wäre, würde den Rahmen der Glosse „wirklich sprengen“. Interessant bleibt auch die Frage, was unter unmittelbar zu verstehen ist? 14 Tage, 4 Wochen? … in Anlehnung an die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand bzw die Beschwerdefrist.
Noch einmal zu EuGH „Protect“: EuGH-Entscheidungen bringen es erfahrungsgemäß mit sich, dass sie einige Fragen lösen und andere Fragen aufwerfen – mögen diese auch schon als gelöst erschienen sein. So auch wieder im genannten EuGH-Urteil. Das Paket „Präklusion“ schien vielen nach dem Urteil des EuGH idS „Kommission/Deutschland“ als geschnürt. Zumindest im Anwendungsbereich von Art 9 Abs 2 AK wurde die Präklusion in weiten Teilen der Lehre und Praxis als beseitigt oder zumindest als bedeutungslos angesehen worden (vgl BVwG 6. 4. 2016, W193 2006762-1; Lindner, EuGH stürzt Präklusion, abrufbar unter http://www.haslinger-nagele.com/de/blog-details/eugh-stuerzt-praeklusion.html; Sander/Reichel, Öffentlichkeit darf bei Großprojekten länger mitreden, Die Presse, 19. 10. 2015; Eberhard/Ranacher/Weinhandl/Wallnöfer, Rechtsprechungsbericht, ZfV 2016, 201 (222)).
Beides war und ist meines Erachtens unrichtig. Der EuGH setzte sich im Verfahren „Kommission/Deutschland“ mit der Präklusion im behördlichen Verfahren überhaupt nicht auseinander, sondern verneinte nur eine Einschränkung des Überprüfungsrechts auf den Umfang der Einwendungen (so auch Niederhuber, Beschwerderechte, ÖZW 2016, 72 (74); Berl F./Onz, Neue Rechte für betroffene Öffentlichkeit, Presse 22. 11. 2015; K. Holzinger, Präklusion, ZVG 2016, 26; Bachl in Altenburger/N.Raschauer (Hrsg), Öffentlichkeitsbeteiligung im Umbruch, Band 1, 4 ff, abrufbar unter https://issuu.com/lexisnexis-at/docs/aktueller_diskurs_umweltr_text_vera). Auch von einer Bedeutungslosigkeit kann meiner Ansicht nach nicht gesprochen werden. Lässt man nämlich die Präklusionsregeln nach AVG unangewendet, so hat die Behörde ein neues Vorbringen auch weit nach der Einwendungsfrist zu beachten und gegebenenfalls das Verfahren zu ergänzen. Insofern ist die Präklusion keineswegs sinnlos, sogar dann nicht, wenn der Beschwerdeführer im Rahmen seiner Beschwerde nicht an den Umfang der Einwendungen gebunden ist. Zwar werden dann zugegebener Maßen mit der Beschwerde die Karten völlig neu gemischt, allerdings konzentriert auf zwei Zeitpunkte, jenen des Ablaufs der Einwendungsfrist im behördlichen Verfahren und jenen des Ablaufs der Beschwerdefrist. Das ist nicht perfekt und wirft auch Probleme auf, wie zB tw Überwälzung des Beweisverfahrens auf das VwG, ist aber mE immer noch besser, als eine „immerwährende Möglichkeit“ neue Einwendungen vorzubringen.
Recht klar erscheint für mich aber auch: der EuGH weicht mit „Protect“ die kategorisch wirkende Ablehnung des EuGH im Fall „Kommission/Deutschland“ (Rs C-137/14) auf. Im VwGH-Erkenntnis „Ökobüro/Luftreinhalteplan Sbg“ war die Frage der Präklusion aufgrund des verfahrenseinleitenden Antrags des Ökobüros im Übrigen nicht zu lösen – mit Spannung darf man daher auf das VwGH-Erkenntnis zu „Protect“ warten.
Betrachtet man die Argumentationskette des EuGH in „Protect“ und vergleicht diese mit den Schlussanträgen von Sharpston, so hat die Präklusion mE im Rahmen von Art 9 Abs 3 AK nicht nur Gültigkeit – vorausgesetzt die Erhebung von Einwendungen war möglich –, sondern führt eine allenfalls eingetretene Präklusion in diesem Bereich zum Untergang auch des Überprüfungsrechtes. Wenn der EuGH die geltende nationale Rechtslage zur Beschwerdebefugnis wiedergibt und ausführt, das Überprüfungsrecht setze nach öst Recht die Parteistellung im Verfahren voraus und diese wiederum das Erheben von Einwendungen, und gleichzeitig die Präklusion für zulässig erklärt, betreibt er nichts Anderes als „reverse engineering“. Die Rechtsfolgenkette in die andere Richtung lautet: Wer zwar Partei ist, aber keine Einwendungen erhebt, ist präkludiert und verliert in der Folge sein Überprüfungsrecht. Er verliert also jenes Recht, das ihm nach Art 9 Abs 3 AK im Kern zustünde.
Abgesehen von der Frage der Auswirkung der allfälligen Präklusion auf ein Überprüfungsrecht nach Art 9 Abs 3 AK stellt sich die Frage, ob davon auch die Aussagen zum Konnex zwischen Präklusion und Überprüfungsrechten in EuGH „Kommission/Deutschland“ zu Art 9 Abs 2 AK betroffen sind (diese Frage ebenso aufwerfend E. Wagner, aaO, Pkt 5 und Sobotta, Klagerecht von Umweltverbänden, EuZW 4/2018, 158, seines Zeichens Mitarbeiter der GA Kokott).
Meines Erachtens ist diese Frage nicht eindeutig gelöst, zumindest handelt es sich nicht um einen acte claire, sodass wohl noch (zumindest) ein weiteres EuGH-Urteil als Mosaiksteinchen notwendig ist, um das Gesamtbild in einiger Entfernung erkennen zu können.
Ich sehe EuGH „Kommission/Deutschland“ und EuGH „Protect“ nicht zwingend in derselben Linie, wie es offensichtlich die hA tut. Mir fehlt in EuGH „Protect“ zB ein Hinweis, dass die Kernaussagen von „Kommission/Deutschland“ unbeschadet seiner Ausführungen weiterhin gelten. Immerhin hatte der Gerichtshof im Fall EuGH „Protect“ sowohl Art 9 Abs 2, als auch Abs 3 AK zu prüfen. Zudem hält er, wie oben gezeigt, im Falle einer Präklusion offensichtlich auch den Untergang des Überprüfungsrechts für möglich. Warum soll dies nicht auch für Art 9 Abs 2 AK gelten? Natürlich könnte man dagegen einwenden, Abs 2 sei gegenüber Abs 3 deutlich strenger, weshalb die Parteienrechte weiter sein müssten. Betrachtet man allerdings die Historie bis zum EuGH-Urteil "Protect", so hat die Generalanwältin die Präklusion noch generell abgelehnt und insofern auch nicht zwischen den beiden unterschiedlichen Absätzen unterschieden.
„122. Stellt andererseits das vorlegende Gericht fest, dass von einer Umweltschutzorganisation wie Protect, auf der Grundlage fairer und gerechter Verfahrensregelungen, vernünftigerweise hätte erwartet werden können, ihre Einwendungen im verwaltungsbehördlichen Verfahren rechtzeitig geltend zu machen, dürften durch die verfahrensrechtliche Frist nach § 42 AVG keine Rechte beeinträchtigt werden, die durch das Aarhus-Übereinkommen oder die Wasserrahmenrichtlinie garantiert werden. Grundsätzlich wahrt eine im nationalen Recht vorgesehene Frist, in der die Parteien Einwendungen geltend zu machen haben, den Wesensgehalt des Rechts auf einen wirksamen gerichtlichen Rechtsbehelf und dürfte nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung der legitimen Ziele der Rechtssicherheit, Zügigkeit und Ökonomie verwaltungsbehördlicher Verfahren erforderlich ist. So hat der Gerichtshof festgestellt, dass die Festsetzung angemessener Fristen für die Rechtsverfolgung im Interesse der Rechtssicherheit, die zugleich den betroffenen Einzelnen und die betroffene Behörde schützt, mit dem Unionsrecht vereinbar ist. Insbesondere hat er solche Fristen nicht als geeignet angesehen, die Ausübung der durch die Unionsrechtsordnung verliehenen Rechte praktisch unmöglich zu machen oder übermäßig zu erschweren (104). Vielmehr verlangt Art. 9 Abs. 4 des Aarhus-Übereinkommens selbst, dass die Verfahren „fair, gerecht [und] zügig“ sein müssen. Insoweit, als er die Möglichkeit einer Partei ausschließt, Einwendungen gegen ein Projekt nach einer bestimmten, von ihr nicht gewahrten Frist geltend zu machen, dürfte § 42 AVG diese Kriterien erfüllen (105).“
In diesem Punkt ist der EuGH von der Ansicht der Generalanwältin abgewichen und hat die Präklusion für zulässig erklärt:
„89 Eine solche Ausschlussregelung kann auf diese Weise zur Verwirklichung des Ziels von Art. 9 Abs. 3 des Übereinkommens von Aarhus, wirkungsvolle gerichtliche Mechanismen zu schaffen (vgl. 18. Erwägungsgrund des Übereinkommens), beitragen. Sie entspricht auch ganz dem Gedanken des Art. 9 Abs. 4 des Übereinkommens, nach dem die u. a. in Art. 9 Abs. 3 des Übereinkommens genannten Verfahren „angemessenen und effektiven“ Rechtsschutz bieten und „fair“ sein müssen.
90 Die Ausschlussregelung stellt demnach als Vorbedingung für die Erhebung einer Klage zwar eine Einschränkung des Rechts auf einen wirksamen Rechtsbehelf bei einem Gericht im Sinne von Art. 47 der Charta dar. Eine solche Einschränkung kann nach Art. 52 Abs. 1 der Charta aber gerechtfertigt sein, wenn sie gesetzlich vorgesehen ist, den Wesensgehalt dieses Rechts achtet und unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit erforderlich ist und den von der Union anerkannten dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen oder den Erfordernissen des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer tatsächlich entspricht (vgl. entsprechend Urteil vom 27. September 2017, Puškár, C‑73/16, EU:C:2017:725,Rn. 61 bis 71).“
Ob sich der VwGH in "Protect" mit dieser Frage auseinander zu setzen hat, bleibt freilich offen, immerhin führt der EuGH aus, im vorliegenden Fall ist fraglich, ob der UO „Protect“ eine Parteistellung verweigert wurde. Diesfalls liefe die Forderung nach der Erhebung von Einwendung darauf hinaus, etwas Unmögliches von jemanden zu verlangen (impossibilium nulla obligatio est). Der genaue Sachverhalt war sowohl für die GA als auch den GH trotz der mündlichen Verhandlung und der entsprechenden Fragen nicht ganz geklärt. Dies wird daher Aufgabe des VwGH sein.
Für die Praxis sei noch angemerkt: Auch wenn ein Unterschied zwischen den beiden Absätzen bestünde, so ist es aus Behörden- und Projektwerbersicht fraglich, ob sich dieser in Verfahren sinnvoll herausarbeiten lässt. Wenn im Bereich des Abs 3 die Präklusion möglich ist, im Abs 2 nicht, dann wäre die Kategorisierung des Vorhabens auch für die (allfällige) Präklusion maßgeblich. Ein dabei unterlaufener Irrtum zeitigt aber meist äußerst unangenehme Konsequenzen – bis zur Aufhebung des Bescheids und Zurückverweisung zur Verfahrensergänzung, sodass vor näheren Klarstellungen durch Legislative oder Judikative eher eine großzügigere Handhabung der Parteienrechte anzuraten ist.
[Epilog: eigentlich wollte ich nur eine Handvoll Zeilen zu VwGH „Ökobüro/Luftreinhalteplan Sbg“ beitragen, nun sind es doch ein paar Zeilen mehr geworden, und dabei habe ich viele weitere Themen noch nicht einmal angeschnitten. Wie verhält sich der „access to justice“ mit nicht unionsrechtlich vorgegebenen Umweltschutzvorschriften ? Wer ist Teil der Öffentlichkeit und wer Teil der (betroffenen) Öffentlichkeit – abgesehen von NGO? …
PS: Wenn Sie bis hierher gekommen sind: Gratulation zur Ausdauer!]