Als Schüler in OÖ musste ich mich zwischen LASK und VÖEST entscheiden, als Student in Wien zwischen Austria und Rapid – die sehr emotional geführte Debatte zur Dritten Piste lässt befürchten, dass man sich als Umweltrechtler nun auch noch zwischen BVwG oder VfGH entscheiden muss. All dies verstellt womöglich ein wenig die Sicht auf eine Sachdebatte, die angesichts der beiden Erkenntnisse (BVwG 2.2.2017, W109 2000179-1/291E; VfGH 29.6.2017, E875/2017 ua) dringend geboten wäre.
Relevanz für alle Interessenabwägungen?
Und damit meine ich nicht die Sachdebatte, ob man nun für oder gegen die Dritte Piste ist, sondern die für viele Genehmigungsverfahren höchst relevante Frage, ob die durch den VfGH getroffenen Ausführungen auch für andere Interessenabwägungen von Relevanz sind. So gut wie jede Anlage, die einer Rodungsbewilligung bedarf oder mit Genehmigungspflichten nach dem jeweiligen Landes-Naturschutzgesetz verbunden ist, ist einer Interessenabwägung zu unterwerfen. Auch eine Ausnahme vom Verschlechterungsverbot des WRG 1959 ist nur im Weg einer Interessenabwägung möglich. Aber tickt jede Interessenabwägung gleich? Können die durch den VfGH zum LFG getroffenen Aussagen verallgemeinert werden?
Welche Interessen sind abzuwägen?
Zunächst verhandeln beide Gerichte die Frage, welche Interessen überhaupt abzuwägen sind. Während das BVwG der Meinung war, § 71 Abs. 1 LFG in seiner Auslegung durch den VwGH (VwSlg. 7913 A/1970) lasse die Berücksichtigung sämtlicher für und wider das Projekt stehenden öffentlichen Interessen zu (egal auf welcher Ebene und in welcher Rechtsqualität sich diese auch festmachen), erblickt der VfGH darin bereits ein gehäuftes Verkennen der Rechtslage. Es sei zwar verfassungsrechtlich geboten, die Staatszielbestimmung des BVG Nachhaltigkeit sowohl bei der Interpretation der abwägungsrelevanten Interessen als auch bei der Gewichtung derselben miteinzubeziehen, allerdings würden die zu berücksichtigenden Interessen dadurch nicht über den Kreis der nach dem LFG wahrzunehmenden Interessen hinaus erweitert. Auch der Bezugsrahmen von Emissionen oder Auswirkungen könne dadurch nicht ausgeweitet werden.
Dem folgend seien dem Flughafen nur die CO2-Emissionen der Start- und Landevorgänge zuzurechnen, das Kyoto-Protokoll und das Übereinkommen von Paris als nicht unmittelbar anwendbare Rechtsquellen müssten außer Betracht bleiben, gleiches gelte für das KlimaschutzG (nicht auf den Luftverkehr anwendbar), das EmissionszertifikateG (nicht auf Flughäfen anwendbar) und die NÖ Landesverfassung (nur im selbstständigen Wirkungsbereich des Landes anwendbar). Das BVwG hätte „in rechtspolitischer Weise“ völkerrechtliche, unionsrechtliche und einfachgesetzliche Maßnahmen beurteilt und daraus (negative) Schlussfolgerungen für die Bewilligungsfähigkeit gezogen, ohne dass der zuständige Gesetzgeber diesbezügliche Anordnungen getroffen hätte. Eine „Gewichtung der Interessen durch Orientierung an Wertbekundungen demokratisch legitimierter Organe oder aus dem Stufenbau der Rechtsordnung“ verkenne somit die Rechtslage.
Egal ob pro oder contra Projekt: Es gilt das Gesetz
So sehr der VfGH damit alle Umweltschützer enttäuscht haben mag, welche das BVwG schon hochleben ließen, so einfach ist der Sukkus seiner Entscheidung: Es gilt das Gesetz. Nach § 71 LFG sind eben die öffentlichen Interessen des Abs. 1 lit. a bis c (technische Eignung, sichere Betriebsführung, Verlässlichkeit, finanzielle Absicherung) und des Abs. 2 (Bedarf) einerseits mit den „sonstigen öffentlichen Interessen“ des Abs. 1 lit. d andererseits abzuwägen. Letztere würden sich – der Judikatur des VwGH folgend – aus dem LFG ergeben und im Wesentlichen den Kanon der Schutzgüter umfassen, die dem klassischen Anlagenrecht zu eigen sind (Schutz der Allgemeinheit, öffentliche Ruhe, Ordnung und Sicherheit, Leben, Gesundheit, Schutz vor störenden Einwirkungen, Eigentum). Den Klimaschutz subsumiert der VfGH ebenso wenig darunter wie den Schutz vor übermäßigem Bodenverbrauch.
Damit stutzt der VfGH jeder Interpretation die Flügel, welche aus § 71 LFG mehr machen möchte als der Gesetzeswortlaut hergibt. Die gegen das Projekt sprechenden öffentlichen Interessen sind auf die dem Gesetz zu entnehmenden Schutzgüter beschränkt. Dem gleichen Prinzip folgen aber auch die Interessenabwägungen anderer relevanter MaterienG: § 17 Abs. 3 ForstG 1975 beschränkt sich auf das „öffentliche Interesse an der Erhaltung dieser Fläche als Wald“, die Landes-Naturschutzgesetze auf näher definierte Interessen am Schutz der Natur, § 104a WRG 1959 auf die definierten Schutzziele für den Zustand der Oberflächen- und Grundwasserkörper.
Der Unterschied des § 71 LFG zu diesen MaterienG liegt vielmehr darin, dass das LFG die für ein Projekt sprechenden Gründe beschränkt (§ 71 Abs. 1 lit. a bis c und Abs. 2), während ForstG 1975, Landes-Naturschutzgesetze und WRG 1959 hier offener sind und im Wesentlichen ganz generell auf den Nutzen abstellen, den die Umsetzung des gegenständlichen Vorhabens bringen wird. Der Berücksichtigung positiver Umweltauswirkungen eines Vorhabens, insbesondere auch des Klimaschutzes durch erneuerbare Energie, steht in diesen MaterienG demnach auch weiterhin nichts entgegen.
Sind Wertentscheidungen als solche einer gerichtlichen Überprüfung zugänglich?
Was allerdings auch so bleibt wie bisher, ist der Umstand, dass die Verwaltungsgerichte zu etwas berufen sind, was sie schlicht nicht leisten können: Nämlich die gerichtliche Überprüfung eines reinen Werturteils. Eine Interessenabwägung besteht bekanntlich aus drei Schritten: der Erfassung der für und gegen das Vorhaben sprechenden Interessen (Schritt 1), der jeweiligen Gewichtung dieser Interessen (Schritt 2) und schließlich dem Werturteil, welchem Interesse nun der Vorrang eingeräumt wird (Schritt 3). Dieses Werturteil ist aber nicht objektivierbar, weil die konkurrierenden Interessen keinem einheitlichen Bewertungsmaßstab unterliegen (der VwGH spricht hier von der fehlenden Möglichkeit einer „monetären“ Bewertung; VwGH 19.12.2005, 2003/10/0209; 13.10.2004, 2001/10/0252). Was ist mehr wert: Arbeitsplätze oder Landschaftsbild?
Dem folgend entspricht es der ständigen Judikatur des VwGH, dass ein getroffenes Werturteil nicht Gegenstand seiner gerichtlichen Kontrolle sein kann. Der Gerichtshof beschränkt sich dabei auf die Prüfung, ob der dem Werturteil zu Grunde liegende Sachverhalt (also die oben beschriebenen Schritte 1 und 2) ausreichend erhoben wurde; das Werturteil selber (Schritt 3) sei aber der richterlichen Überprüfung entzogen. Hier geht es dem Gerichtshof ausschließlich darum, die Wertentscheidung transparent und nachvollziehbar zu machen, indem die für und gegen ein Vorhaben sprechenden Argumente möglichst umfassend und präzise erfasst und einander gegenübergestellt werden (VwGH 19.12.2005, 2003/10/0209; 13.10.2004, 2001/10/0252; 17.3.1997, 92/10/0398). „Entspricht die Begründung eines Bescheides, der auf einer Interessenabwägung beruht, diesen Anforderungen, so kann mit der bloßen Behauptung, die Behörde habe zu Unrecht den einen oder den anderen öffentlichen Interessen höheres Gewicht beigemessen, keine Rechtswidrigkeit aufgezeigt werden; liegt es doch im Wesen einer solchen Interessenabwägung, daß sich die Behörde für die Zurückstellung der einen oder der anderen Interessen zu entscheiden hat.“ (VwGH 27.10.1997, 96/10/0255; 21.11.1994, 94/10/0076; Umweltsenat 8.3.2007, US 9B/2005/8-431).
Damit muss aber die Frage erlaubt sein (und zwar ohne dass gleich ein Angriff auf den Rechtsstaat unterstellt wird), warum der Gesetzgeber den Verwaltungsgerichten das einräumt, was der VwGH für sich nicht in Anspruch nimmt: Die gerichtliche Kontrolle eines Werturteils, oder etwas griffiger formuliert, das Ersetzen des Werturteils der (immerhin demokratisch legitimierten und politisch verantwortlichen) Behörde durch das Werturteil des jeweiligen Richters. Und Obacht: Da die Gesetze mangels Vergleichbarkeit der konfligierenden öffentlichen Interessen allesamt keinen Wertungsmaßstab festlegen können, entscheidet hier die persönliche Einzelwertung eines Richters.
Ist eine gesetzliche Anpassung zulässig und zielführend?
Nun ist es unbestritten, dass ein Überprüfungsverfahren vor Gericht unter anderem durch die Aarhus-Konvention, die Grundrechtecharta, die UVP-RL und die IndustrieemissionsRL gefordert wird. Allerdings wird man nur das einer gerichtlichen Überprüfung unterziehen können, was so einer Überprüfung überhaupt zugänglich ist, wofür es also einen Prüfmaßstab gibt. Auch der Bundes-Verfassung dürfte es nicht ganz fremd sein, eine gerichtliche Überprüfung für besondere Fälle auszuschließen: Art. 130 Abs. 3 B-VG legt fest, dass Rechtswidrigkeit nicht vorliegt, soweit das Gesetz der Behörde Ermessen einräumt und sie dieses im Sinne des Gesetzes geübt hat. Das heißt aber, dass für Ermessensübungen, sofern sie sich an den gesetzlichen Rahmen halten, eine gerichtliche Überprüfung nicht für nötig erachtet wird (sofern nicht die anderen Kautelen des Art. 130 B-VG bzw. § 28 VwGVG greifen); das Verwaltungsgericht darf diesfalls einen rechtmäßigen Bescheid weder aufheben noch abändern (Mayer/Muzak, B-VG5, 449).
Wenn dies nun aber bereits für Ermessensübungen möglich ist, muss dies umso mehr für die reine Wertentscheidung im Rahmen einer Interessenabwägung zulässig sein. Eine rechtspolitische Debatte, ob bzw. unter welchen Voraussetzungen hier gesetzliche Anpassungen geboten sind, sollte meiner Einschätzung nach jetzt und nicht erst unter dem Eindruck der nächsten „Aufregerentscheidung“ geführt werden.