Das am Dienstag vom EGMR verkündete Urteil im Fall Verein KlimaSeniorinnen und andere gegen die Schweiz gilt schon jetzt als historisch. Zum ersten Mal hat sich der Gerichthof mit den grundrechtlichen Dimensionen des Klimawandels befasst und einer Klimaklage teilweise stattgegeben. Zwei weitere Klimaklagen, Carême gegen Frankreich, in der ein ehemaliger Bürgermeister des französischen Küstenortes Grande-Synthe Frankreich klagte, und Duarte Agostinho und andere gegen Portugal und 32 andere, eine Individualbeschwerde junger Menschen aus Portugal gegen ihren Heimatstaat und 32 weitere Staaten, darunter auch Österreich, wurden hingegen als unzulässig zurückgewiesen.
Zum Sachverhalt
Vier Frauen und der Verein KlimaSeniorinnen Schweiz klagten die Eidgenossenschaft, da bestehende Klimagesetze und -ziele nicht eingehalten werden, und begehrten eine strengere Klimagesetzgebung. Die Beschwerdeführerinnen und sämtliche Mitglieder des Vereins sind ältere Frauen, die sich aufgrund der Erderhitzung in ihrem Leben, ihrer Gesundheit und ihren Lebensbedingungen gefährdet sehen. Die Schweiz trage aufgrund ihrer unzureichenden Klimagesetzgebung zum Klimawandel bei und verletze dadurch ihre Grundrechte auf Leben (Art 2 EMRK) und Privatleben (Art 8 EMRK). In ihrem Heimatland blitzten die Klimaseniorinnen mit ihrer Klage in allen Instanzen ab. Ob der ebenfalls klagende Verein in den Verfahren aktivlegitimiert ist, ließen die Schweizer Gerichte und Behörden dabei offen. Daher machten die Beschwerdeführerinnen und der Verein auch eine Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren, nämlich auf Zugang zu einem Gericht (Art 6 Abs 1 EMRK) und des Rechts auf einen wirksamen Rechtsbehelf (Art 13 EMRK) geltend.
Zum Urteil
In seiner 258-seitigen Entscheidung befasste sich der Gerichtshof zunächst mit der Relevanz der Klimakrise für die Grundrechte der EMRK und erkannte den Klimawandel als Menschenrechtsproblem an (Rn 410 ff). Da der Klimawandel ein globales Phänomen darstellt, jedermann betrifft, viele verschiedene Verursacher:innen hat, seine Folgen komplex sind und der Zusammenhang zwischen Treibhausgasemissionen und den Klimawandelfolgen bloß mittelbar ist, erklärte der Gerichthof, dass diesbezüglich ein neuer Ansatz in seiner Rechtsprechung zu entwickeln sei. Seine bisherige Umweltrechtsprechung könne nicht deckungsgleich auf Klimarechtsstreitigkeiten übertragen werden (Rn 422).
Zur Zulässigkeit
In Bezug auf die Zulässigkeit einer Individualbeschwerde nach Art 34 EMRK hielt der Gerichthof zunächst fest, dass es den vier Frauen an einer entsprechenden Aktivlegitimation fehle. Um klagebefugt zu sein, müssten sie unmittelbar und individuell von der staatlichen Untätigkeit betroffen sein. Diese besondere Betroffenheit sei unter zwei Voraussetzungen gegeben: (a) Zum einen muss der/die Beschwerdeführer:in den negativen Auswirkungen des Klimawandels in einem besonders hohen Ausmaß ausgesetzt sein und (b) zum anderen aufgrund fehlender oder unzureichender Maßnahmen zur Schadensminderung ein dringendes Bedürfnis bestehen, individuellen Schutz für den/die Beschwerdeführer:in zu gewährleisten (Rn 487). Da Popularklagen nach dem System der EMRK unzulässig sind, sei dabei ein besonders strenger Maßstab anzulegen. Durch die Einzelklägerinnen sah der Gerichtshof diese Schwelle nicht überschritten (Rn 535).
Der Verein, der sich nach seinem Vereinszweck dazu verpflichtet hat, seine Mitglieder vor den Folgen des Klimawandels zu schützen, war hingegen zur Klage berechtigt. Entgegen dem Grundsatz, dass sich Vereinigungen nicht auf Grundrechte, die nur natürlichen Personen zustehen, berufen können, entwickelte der Gerichtshof vor dem Hintergrund der Komplexität und Bedeutung der Klimakrise einen neuen Ansatz: Eine Vereinigung, die eine Beschwerde gegen einen Staat erhebt, weil dieser es verabsäumt, Individuen ausreichend und adäquat vor dem Klimawandel zu schützen, ist beschwerdelegitimiert, wenn (a) sie nach der im Verfahren relevanten Rechtsordnung rechtmäßig eingerichtet und handlungsfähig ist, (b) nachweisen kann, dass sie in Übereinstimmung mit ihren satzungsmäßigen Zielen den Zweck verfolgt, die Menschenrechte ihrer Mitglieder oder anderer betroffener Personen in dem betreffenden Hoheitsgebiet zu verteidigen, und (c) nachweisen kann, dass sie in der Lage und dazu berechtigt ist, im Namen ihrer Mitglieder oder anderer betroffener Personen innerhalb des Hoheitsgebiets, die spezifischen Bedrohungen oder nachteiligen Auswirkungen durch den Klimawandel auf ihr Leben, ihre Gesundheit oder ihr Wohlergehen, die durch die Konvention geschützt sind, ausgesetzt sind, zu handeln (Rn 502). Der Verein KlimaSeniorinnen Schweiz erfüllte diese Kriterien und war damit berechtigt aufgrund einer behaupteten Grundrechtsverletzung seiner Mitglieder zu klagen (Rn 521 ff und 623).
Zu den einzelnen Grundrechten
Art 2 EMRK
Im Hinblick auf seine Prüfung zu Art 8 EMRK sah der Gerichtshof davon ab, auch einen Verstoß gegen das Recht auf Leben zu prüfen. Er betonte jedoch, dass seine zu Art 8 EMRK getätigten Aussagen und aufgestellten Grundsätze im Kontext des Klimawandels in gleicher Weise für die Feststellung einer Verletzung von Art 2 EMRK anwendbar sind (Rn 537).
Art 8 EMRK
Nach der Rechtsprechung des EGMR beinhaltet Art 8 EMRK einen Anspruch des/der Einzelnen auf wirksamen Schutz durch die staatlichen Behörden vor schwerwiegenden negativen Auswirkungen des Klimawandels auf das Leben, die Gesundheit, das Wohlbefinden und die Lebensqualität (Rn 519). In diesem Zusammenhang besteht die Hauptaufgabe der Staaten darin, Regelungen zu erlassen und anzuwenden, um den Klimawandel und seine Folgen zu mindern (Rn 545). Diese Verpflichtung ergibt sich aus dem Kausalzusammenhang zwischen dem Klimawandel und dem Genuss der Konventionsgrundrechte (Rn 435). Als geeignete Maßnahmen, um dieser positiven Schutzpflicht nachzukommen, sieht der Gerichtshof Regelungen wie Treibhausgasbudgets und Treibhausgasreduktionsziele an (Rn 546). Dabei beachtet der EGMR jedoch den weiten Handlungsspielraum, der Staaten in Bezug auf ihre positiven Schutzpflichten im Bereich des Umweltschutzes zukommt. Zu diesem Zweck entwickelte er im vorliegenden Verfahren einen flexiblen Beurteilungsrahmen, um festzustellen, ob ein Staat seinen Ermessensspielraum überschritten hat. Kriterien, die der Gerichtshof bei dieser Beurteilung anzuwenden hat, sind etwa Fragen danach, ob der Staat
(a) allgemeine Maßnahmen ergriffen hat, die einen Zielzeitplan für das Erreichen der Klimaneutralität und CO2-Budgets für diesen Zeitraum festsetzen,
(b) Treibhausgasreduktionsziele und entsprechende Zwischenziele vorgesehen hat, die geeignet sind, die Reduktionsziele innerhalb des gesetzten zeitlichen Rahmens zu erreichen,
(c) nachweisen kann, dass er die entsprechenden Ziele ordnungsgemäß einhält oder Anstrengungen unternimmt, um sie zu erreichen,
(d) Treibhausgasreduktionsziele mit der gebotenen Sorgfalt und auf Grundlage der besten verfügbaren Kenntnisse auf dem neuesten Stand hält und
(e) bei der Ausarbeitung und Umsetzung der entsprechenden Gesetze und Maßnahmen rechtzeitig sowie angemessen und konsequent vorgeht (Rn 550).
In prozessualer Hinsicht haben Staaten bei ihrer Klimagesetzgebung (a) der Öffentlichkeit Zugang zu Informationen zu gewähren und (b) die Öffentlichkeit und Betroffene an der Entscheidungsfindung zu beteiligen (Rn 554).
In Bezug auf die Schweiz stellte der Gerichtshof fest, dass sie ihren Handlungsspielraum überschritten hat, indem sie keine ausreichende Klimagesetzgebung erlassen hat:
„573. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass es im Prozess der Schweizer Behörden bei der Einführung des entsprechenden nationalen Regulierungsrahmens einige kritische Lücken gab, darunter das Versäumnis der Schweizer Behörden, die nationalen Treibhausgasemissionsbegrenzungen durch ein CO2-Budget oder auf andere Weise zu quantifizieren. Darüber hinaus hat der Gerichtshof festgestellt, dass der Staat auch seine früheren Treibhausgasreduktionsziele nicht erreicht hatte. Indem der beklagte Staat bei der Ausarbeitung, Entwicklung und Umsetzung des relevanten Rechts- und Verwaltungsrahmens nicht rechtzeitig, angemessen und konsequent gehandelt hat, hat er seinen Ermessensspielraum überschritten und ist seinen positiven Verpflichtungen im vorliegenden Zusammenhang nicht nachgekommen.“ [Anm: Die Übersetzung stammt von der Autorin.]
Art 6 EMRK
Zur Anwendbarkeit dieser Bestimmung hielt der Gerichtshof zunächst fest, dass Art 6 EMRK zwar nicht auf Klagen gegen die gesetzgeberische Untätigkeit im Bereich des Klimaschutzes anwendbar ist. Das Recht auf ein faires Verfahren war aber im vorliegenden Fall insofern anwendbar, als die Beschwerdeführerinnen die mangelhafte Anwendung und Durchsetzung bestehender Klimagesetze geltend machten (Rn 615 f, 633 f). Bei dem geltend gemachten Recht auf Leben – und davon abgeleitet dem Recht auf körperliche Unversehrtheit – nach Art 10 der Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft handle es sich darüber hinaus um ein „civil right“ iSd Art 6 EMRK (Rn 617). Auch das Kriterium eines wirklichen und ernsthaften Streits über die Achtung des betreffenden zivilrechtlichen Anspruchs, war nach Ansicht des Gerichtshofs erfüllt (Rn 619). Zur Voraussetzung, dass der Ausgang des Rechtsstreits für den Anspruch unmittelbar entscheidend sein muss, hielt der Gerichtshof fest, dass die Vereinigung eine ausreichend enge Nahebeziehung zum geltend gemachten Recht ihrer Mitglieder hat und als Mittel zur Durchsetzung dieses Rechts diente (Rn 621). In diesem Zusammenhang betonte er auch die Bedeutung, die kollektiven Maßnahmen in klimarechtlichen Verfahren zukommt (Rn 622). Damit war Art 6 EMRK im vorliegenden Verfahren anwendbar.
Das Recht auf Zugang zu einem Gericht umfasst nach der Rechtsprechung des EGMR auch ein Recht auf eine abschließende Entscheidung (Rn 629). In den nationalen Verfahren wurden die Anträge des Vereins in allen Instanzen und von sämtlichen Behörden zurückgewiesen, ohne dass sie sich mit der Frage der Aktivlegitimation des Vereins befasst hätten bzw diese getrennt von jener der Einzelbeschwerdeführerinnen geprüft hätten. Die innerstaatlichen Gerichte haben sich mit der Klage des beschwerdeführenden Vereins nicht ernsthaft befasst (Rn 630, 636). Der Gerichthof widerspricht außerdem den nationalen Gerichten, wenn diese festhalten, dass noch ausreichend Zeit bleibe, um auf den Klimawandel zu reagieren. Er stellte fest, dass es die nationalen Gerichte verabsäumt haben, sich mit den drängenden wissenschaftlichen Beweisen betreffend den Klimawandel zu befassen (Rn 635). Da weder dem Verein noch seinen Mitgliedern weitere rechtliche Möglichkeiten zur Verfügung standen, die mangelhafte Durchsetzung bestehender Klimagesetze geltend zu machen, hielt der EGMR fest, dass das Recht auf Zugang zu einem Gericht in seiner Essenz verletzt wurde (Rn 638). Dabei betonte er auch die zentrale Rolle, die nationalen Gerichten und dem Zugang zu Gerichten in Rechtsstreitigkeiten rund um den Klimawandel zukommt (Rn 639).
Art 13 EMRK
Da Art 6 im Verhältnis zu Art 13 EMRK eine lex specialis darstellt, hat der Gerichtshof davon abgesehen, über die behauptete Verletzung des Rechts auf einen wirksamen Rechtsbehelf zu entscheiden (Rn 641 ff).
Im Ergebnis bejahte der EGMR mit 16 zu einer Stimme die Verletzung des Rechts auf Achtung des Privat- und Familienlebens und einstimmig die Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren, die vom Verein KlimaSeniorinnen Schweiz geltend gemacht wurden. Die Beschwerden der vier Frauen erklärte er hingegen für unzulässig. Die Schweiz hat nun das Urteil des Gerichtshofs zu befolgen und die Grundrechtsverletzung einzustellen, wobei ihr bei der Festsetzung der dazu notwendigen Maßnahmen ein weiter Ermessensspielraum zukommt (Rn 657).
In Zukunft wird interessant sein, wie der EGMR seine neu entwickelten Kriterien zur Beschwerdelegitimation – sowohl für Einzelpersonen als auch für Vereinigungen – weiterentwickelt. Die festgestellte Verletzung von Art 8 EMRK aufgrund unzureichender Klimagesetzgebung könnte auch für Österreich mit seiner der schweizerischen Rechtsordnung nicht unähnlichen Rechtslage relevant werden. Das Urteil gilt zu Recht jetzt schon als historisch und ist ein bedeutender Schritt im Kampf gegen die Klimakrise.